Das aktuelle Interview

Wir denken immer mehr in Stoffkreisläufen

Dr. Thomas Baumgärtner: „Ich denke, die Labelexpo hat gezeigt: Etiketten haben ihre besten Zeiten noch vor sich.“
Dr. Thomas Baumgärtner: „Ich denke, die Labelexpo hat gezeigt: Etiketten haben ihre besten Zeiten noch vor sich.“ (Quelle: Herma)

Nachhaltigkeit? Für Dr. Thomas Baumgärtner sind Etiketten Teil der Lösung, nicht des Problems. Im Interview erläutert der Geschäftsführer des Haftmaterialspezialisten Herma, wieso Linerless zum Game Changer wird.

Welche Rolle spielen Etiketten beim Recycling von PET-Flaschen und wie wird man gleich zwei Mal mit dem Deutschen Verpackungspreis ausgezeichnet. Herma gehört heute zu den Innovatoren im Etikettenmaterialsektor. Und dabei bekommen Umweltschutz und Nachhaltigkeit eine immer größere Bedeutung.

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Wenn Sie die Labelexpo 2019 mit einem Satz zusammenfassen sollten, wie würde der lauten?

Dr. Baumgärtner: Ich denke, die Labelexpo hat gezeigt: Etiketten haben ihre besten Zeiten noch vor sich. Natürlich hat die mögliche Bandbreite der Kennzeichnungstechniken deutlich zugenommen. Aber es hat schon zu allen Zeiten Alternativen zu Etiketten gegeben. Das Etikett ist jedoch universell und extrem flexibel einsetzbar und es lässt sich äußerst vielfältig gestalten. Aber wie grundsätzlich alle Materialien rund um das Thema Verpackung müssen sich auch Etiketten der Diskussion um Nachhaltigkeit stellen. Und da haben wir überzeugende Argumente auf unserer Seite.

Wurde ebenfalls mit dem Deutschen Verpackungspreis in der Kategorie Nachhaltigkeit ausgezeichnet: das erste PE-Folienetikett, das zu 100 Prozent aus Recyclat besteht. Schäfer-etiketten und Herma haben es gemeinsam entwickelt
Wurde ebenfalls mit dem Deutschen Verpackungspreis in der Kategorie Nachhaltigkeit ausgezeichnet: das erste PE-Folienetikett, das zu 100 Prozent aus Recyclat besteht. Schäfer-etiketten und Herma haben es gemeinsam entwickelt (Quelle: Herma)

Wie lauten die Argumente?

Dr. Baumgärtner: Erstens: Materialeinsatz verringern oder optimieren und damit CO2-Emissionen deutlich reduzieren – zum Beispiel Stichwort Linerless. Zweitens: sinnvolle Recyclingprozesse aktiv fördern. Und drittens: Wenn sich schon Abfall nicht vermeiden lässt, dann wäre es schön, wenn man ihn kompostieren könnte.

Bleiben wir zunächst beim Stichwort Linerless: Das Thema ist ja nicht neu, und es gibt auch verschiedene andere Anbieter. Was macht Herma anders als andere?

Dr. Baumgärtner: Wir haben uns im Laufe der Entwicklung intensiv mit Logistikfachleuten ausgetauscht. Dort war die einhellige Meinung: Wer es schafft, ein Linerless-System zu entwickeln, das mindestens 40 Versandetiketten pro Minute bedrucken und sicher spenden kann, der hat das, was man einen Game Changer nennt, also eine Technologie, die einen Markt oder eine bestimmte Anwendung tatsächlich revolutionieren kann. Unseres Wissens nach sind wir jetzt die ersten und derzeit auch die einzigen, die ein komplettes System bieten, das unter den Anforderungen in Logistikzentren hinsichtlich Geschwindigkeit und Prozesssicherheit stabil funktioniert.

Warum gerade für Versandetiketten?

Zum einen, weil man hier auf einen Schlag riesige Materialmengen einsparen kann. Allein in den wichtigsten Versandnationen fallen derzeit etwa 100 Milliarden Versandetiketten an – pro Jahr, wohlgemerkt. Dahinter stehen ja tausende Tonnen von Unterlagenpapier, die überflüssig werden. Und die Etikettenrollen werden dramatisch leichter und kleiner. Zum anderen geschieht das Etikettieren von Versandkartons auf verhältnismäßig unkritischen Oberflächen, so dass es sich als Einstieg in die neue Technologie geradezu anbietet.

Haben Sie den Eindruck, dass die Besucher der Labelexpo den Vorteil verstanden haben?

Dr. Baumgärtner: Das InNo-Liner System auf unserem Stand war praktisch ständig umlagert. Das trifft übrigens auch auf den Auftritt auf der Fachpack zu, wo die eigentlichen Etikettenverwender noch viel häufiger zu finden waren. Was die Besucher vor allem überzeugt hat, war die Einfachheit des Systems. Unsere Aktivierungseinheit für den zunächst nicht-klebrigen Haftkleber ist rein wasserbasiert. Klar, die Mikrozerstäubereinheit ist Hightech. Aber das heißt: keine Lösemittel, keine Hitze und keine anderen Mittel mit irgendwelchen unerwünschten Nebenwirkungen. Und der Etikettenverwender ist praktisch frei in der Wahl des Etikettenpapiers. Außerdem ist es nicht teurer als ein klassisches Selbstklebeetikett. Eine der häufigsten Fragen war deshalb, ob es dieses System auch für andere Anwendungen als Versandetiketten gibt.

Dr. Thomas Baumgärtner: „Das eine Etikett der Zukunft wird es nicht geben, dafür tun sich jedes Jahr viel zu viele neue Anwendungsmöglichkeiten auf.“
Dr. Thomas Baumgärtner: „Das eine Etikett der Zukunft wird es nicht geben, dafür tun sich jedes Jahr viel zu viele neue Anwendungsmöglichkeiten auf.“ (Quelle: Herma)

Was haben Sie darauf geantwortet?

Dr. Baumgärtner: Wir arbeiten schon daran. Glasoberflächen wären definitiv ein interessantes Anwendungsgebiet. Und wir werden versuchen, das System so zu erweitern, dass es sich auch für Kunststoffoberflächen etwa für den Lebensmittelbereich eignet. Aber im ersten Schritt konzentrieren wir uns auf Versandetiketten aus Papier. Allein hier ist das Potenzial riesengroß. Das sehen ja auch die Fachleute. Dass uns gerade eine sehr kompetente Jury den Deutschen Verpackungspreis in der Kategorie Nachhaltigkeit verliehen hat, kommt ja nicht von ungefähr.

Haben Sie nicht die Sorge, dass die Anwender demnächst ganz auf Etiketten verzichten und zum Direktdruck übergehen?

Dr. Baumgärtner: Nein, gerade Versandkartons direkt zu bedrucken, ist schwierig, wenn die Maschinenlesbarkeit sichergestellt werden soll. Ein heller, weißer Hintergrund ist dagegen optimal für Bar- oder Datamatrix-Codes. Bei herkömmlichen Versandkartons ist die Gefahr, dass Codes nicht richtig gelesen werden können, relativ hoch. Dieses Risiko will niemand eingehen. Überhaupt wird beim Direktdruck generell eine Sache unterschätzt: Die Farbe gelangt dadurch unvermeidlich in einen Recyclingprozess. Das ist zum Beispiel bei PET-Flaschen, die für Lebensmittel eingesetzt werden, ein Problem.

Wie meinen Sie das?

Dr. Baumgärtner: Das Recycling von PET-Getränkeflaschen ist aus Gründen der Nachhaltigkeit besonders interessant: Denn das kann nicht nur einmal, sondern prinzipiell immer wieder stattfinden, auch für die Lebensmittelverwendung – vorausgesetzt, das PET-Granulat ist möglichst rein. Wir haben hier also schon den Optimalfall eines nahezu geschlossenen Kreislaufs. Das gilt vor allem für Deutschland, wo die Rücknahmequote von Einweg-PET-Flaschen bei 98 Prozent liegt. Wenn das PET-Material jedoch direkt bedruckt würde, könnte man die Farbe beim Recyclingprozess kaum vollständig entfernen. Ein echtes Recycling für den Einsatz im Lebensmittelbereich ist dann nicht mehr möglich.

Aber Etiketten werden auch mit Farben bedruckt. Wie sollen diese aus dem Recyclingprozess entfernt werden?

Dr. Baumgärtner: Mit der Mehrschichttechnologie sind wir inzwischen in der Lage, Haftkleber zu entwickeln, die gut haften und resistent gegen Feuchtigkeit sind, sich mit den gängigen PET-Reinigungsprozessen jedoch wieder komplett entfernen lassen – inklusive aller Kleberspuren. Mit dem Etikett wird gleichzeitig jegliche Farbe aus dem Recyclingprozess entfernt. Genau deshalb sind Etiketten Teil der Lösung, nicht des Problems.

Erst unmittelbar vor dem Verspenden aktiviert im Herma InNo-Liner System eine Mikrozerstäubungseinheit den speziellen Haftkleber – rein wasserbasiert.
Erst unmittelbar vor dem Verspenden aktiviert im Herma InNo-Liner System eine Mikrozerstäubungseinheit den speziellen Haftkleber – rein wasserbasiert.

Wie zuverlässig funktioniert ein solcher Haftkleber?

Dr. Baumgärtner: In unserem Labor haben sowohl Papier- als auch Folienetiketten mit diesem Haftkleber eine Abwaschrate von 100 Prozent erreicht. Das haben wir getestet gemäß den strengen Vorgaben des Test-Protocols Version 1.4 von Petcore. Das ist ein europäischer Verband, der die komplette Supply Chain umfasst: vom PET-Hersteller und PET-Verwender bis zum PET-Recyclingunternehmen. Für zwei Etikettenmaterialien liegen uns inzwischen auch Zertifikate des unabhängigen Instituts cyclos-HTP vor, die die Recyclingfähigkeit in Verbindung mit unserem Haftkleber 62Rpw bescheinigen.

Sie sprachen eingangs auch von Kompostierfähigkeit. Was hat es damit auf sich?

Dr. Baumgärtner: Es gibt mehr und mehr Ansätze, komplette Verpackungen kompostierbar zu gestalten. Dabei spielen auch Etiketten eine wichtige Rolle, weil sie als effizientes Mittel zur Kennzeichnung oft Teil von Verpackungen sind. Hier wird häufig vergessen, dass ja nicht nur das Etikettenmaterial die Kompostierbarkeit erfüllen muss, sondern auch der eingesetzte Haftkleber. Für diese Kombination haben wir eine Lösung gemäß den strengen Vorgaben der EN 13432 entwickelt. Der daraus gewonnene Kompost oder Humus darf bedenkenlos wieder direkt in der Landwirtschaft eingesetzt werden. Auch das ist ja ein schöner Kreislauf.

Wenn Sie in die berühmte Glaskugel schauen, wie sieht dann das Etikett der Zukunft aus?

Dr. Baumgärtner: Das eine Etikett der Zukunft wird es nicht geben, dafür tun sich jedes Jahr viel zu viele neue Anwendungsmöglichkeiten auf. Aber wir werden künftig immer mehr in Stoffkreisläufen denken – und das ist gut so. Zum Beispiel ist es wenig sinnvoll, Kunststoffe generell zu verteufeln, denn sie haben uns gewaltigen Fortschritt gebracht. Es stimmt, die Kreisläufe sind noch längst nicht optimal, aber wir haben vielversprechende, praxistaugliche Ansätze und Möglichkeiten. Zusammen mit schäfer-etiketten haben wir ja kürzlich das erste Folienetikett präsentiert, das zu 100 Prozent aus Recyclat besteht. Auch dafür sind wir gemeinsam mit schäfer-etiketten mit dem Deutschen Verpackungspreis ausgezeichnet worden, erneut in der Kategorie Nachhaltigkeit. Das zeigt uns: Entsprechende Anstrengungen werden gesehen und belohnt. Aber wir wissen auch: Da geht noch mehr. Daran arbeiten wir. [11019]